Zum Thema der Ausschreibung
Wandel, Wendepunkte und Umbrüche begleiten uns und betreffen fast alle Aspekte des Alltags. Sie betreffen physikalische Abläufe ebenso wie große gesellschaftliche Strömungen. Ein stabiler Zustand reagiert auf Änderungen seiner Eingangsgrößen stetig. Ist der Zustand instabil, dann kommt es zur Emergenz neuer Übergangszustände, welche ihrerseits instabil sind, und schließlich asymptotisch oder aperiodisch in einen neuen stabilen Zustand übergehen. Mitunter ist der neue Zustand periodisch oszillierend oder gar chaotisch.
Eine Fachgrenzen überschreitende Frage ist dabei, unter welchen Umständen ein Umbruch von Stabilität zu Instabilität erfolgt und welche Mechanismen dabei zu beobachten sind. Ein Thema, welches sich bisher jeweils abgrenzend in den Naturwissenschaften, Medizin, Sozial- und Geisteswissenschaften wiederfindet und die Entwicklung aktueller Forschungsansätze initiiert. Eine genauere Analyse lässt die Hypothese zu, dass sich über viele Bereiche hinweg allgemein gültige Stabilitätskriterien für komplexe Zustände aufzeigen lassen, obwohl die jeweils zu beobachtenden Phänomene scheinbar vollkommen unterschiedlichen Mechanismen folgen.
Ein paar Beispiele
In der Mathematik gibt es das Gebiet der Stabilitätstheorie. Dieses Gebiet hat vielfältige naturwissenschaftliche und technische Anwendungen in der Physik, Biologie und chemischen Reaktionstechnik, sowie in der Kybernetik und beispielsweise in der Mechanik, Meteorologie und Geologie. Wenn möglich, so wird der betreffende dynamische Sachverhalt in ein mathematisches Gleichungssystem übertragen, dessen Lösung dann entweder ein- oder mehrdeutig ist. An solchen Gleichungssystemen können Störungsrechnungen durchgeführt werden, die zeigen, ob das Verhalten des betreffenden Systems stabil gegenüber inkrementellen Änderungen der Eingangsparameter oder gegen Störungen ist.
In der Biologie kommt es zu Wucherungen, plötzlicher Populationsvermehrung oder aber Populationsauslöschungen. In der Ozeanologie wird die Stabilität des Golfstromes diskutiert und natürlich stellt sich die Frage, ob und wann für unser Klimageschehen unumkehrbare Wendepunkte eintreten. Zu erwarten ist, dass auch kybernetische Systeme, die gewisse Funktionalitäten über KI-Methoden beschreiben, einen vormals stabilen Zustand verlassen und über Zwischenzustände einen neuen Zustand annehmen. In der Thermodynamik ist das Konzept der Metastabilität bekannt, nach der ein System einer gewissen Aktivierungsenergie bedarf, um aus einem vormals stabilen Zustand über höher energetische Zwischenzustände in einen neuen stabilen Zustand überzugehen.
Das Phänomen des Übergangs von einem stabilen Zustand hin zu einem neuen stabilen, oszillierenden oder chaotischen Zustand ist hinlänglich auch in nicht mathematisch-naturwissenschaftlichen Zusammenhängen bekannt. In der Geschichte, auch in der jüngeren Geschichte, gibt es plötzliche Zusammenbrüche bislang stabiler gesellschaftlicher, politischer oder wirtschaftlicher Strukturen. Nur ein Beispiel: die Pentarchie der europäischen Großmächte zwischen ca. 1450 und 1914 war hinsichtlich der Mächtebeziehungen und sogar der Beteiligten stets instabil um nicht zu sagen chaotisch. Aus weltgeschichtlicher Sicht hingegen handelte es sich um ein überaus stabiles Quasi-System, das indirekt heute noch in der Großmächte-Hegemonie des UN-Sicherheitsrats weiterlebt.
Auch gilt es, die Kategorien stabil/instabil selbst kritisch zu hinterfragen. Woher kommt das Denken in diesen Kategorien überhaupt? Woher kommt das Bedürfnis nach Stabilität? Welche wissenschaftlichen Disziplinen sind darauf angewiesen und warum? Dasselbe gilt auch für die Sub-Kategorie ‚System‘. Wann und warum wurde und wird in Systemen gedacht? Wann und warum und von welchen Disziplinen wird der Systembegriff in Frage gestellt?
Zusammenfassend zeigt sich, dass das Phänomen des Übergangs von einem stabilen in einen anderen stabilen Zustand in vielen Bereichen anzutreffen ist. Es ist ein lohnendes Ziel, die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede dieser Phänomene aufzudecken. Neben der Erforschung spannender Fragen in den jeweiligen Disziplinen werden im WIN-Kolleg auch transdisziplinäre Erkenntnisse zu diesem Thema erarbeitet, wie es in keiner anderen Forschungsförderung geboten wird und insbesondere die Akademie als wissenschaftliche Heimat benötigt.