Komplexitätsreduktion – Prinzipien, Methoden und Herausforderungen
In der neunten Staffel (früher Teilprogramm genannt) des WIN-Kollegs soll interdisziplinär untersucht werden, ob, wie und warum die Reduzierung von komplexen Sachverhalten und Situationen für wissenschaftliche Erkenntnisse und Ergebnisse notwendig ist und welche Folgen diese Komplexitätsreduzierung für das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft hat.
Interessierte Bewerberinnen und Bewerber finden in der ausführlichen Programmbeschreibung nähere Informationen und exemplarische Forschungsbereiche für die Staffel benannt. Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind eingeladen, auch über diese Beispiele hinaus Anträge einzureichen, die sich in das Thema „Komplexitätsreduktion – Prinzipien, Methoden und Herausforderungen“ fügen.
Programmbeschreibung
Die siebte und achte Staffel des WIN-Kollegs erfragten mit den Themen „Wie entscheiden Kollektive?“ (interner Link) und „Stabilität und Instabilität von Zuständen“ (interner Link), wie sich, über viele Bereiche hinweg, allgemein gültige Kriterien für die Entscheidung von Kollektiven und die Stabilität komplexer Systeme finden lassen. In Anlehnung daran soll nun in der neunten Staffel der Frage nachgegangen werden, ob, wie und warum die Reduzierung von komplexen Sachverhalten und Situationen für wissenschaftliche Erkenntnisse und Ergebnisse notwendig ist und welche Folgen diese Komplexitätsreduzierung für das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft hat.
Unser tägliches Erleben ebenso wie unser wissenschaftliches Handeln ist von konstanter Komplexitätsreduktion bestimmt. Beim Benutzen eines technischen Geräts, beim Erstellen eines naturwissenschaftlichen Modells, bei der Übersetzung zwischen Sprachen, bei der Analyse historischer Entwicklungen oder beim Erfassen komplexer Systeme und Sachverhalte werden Ambiguitäten, Unsicherheiten und Widersprüche methodisch durch verschiedene Prinzipien der Komplexitätsreduzierung weitgehend ausgeklammert, um zu validen Ergebnissen kommen zu können. Damit ist aber eine Reihe von grundlegenden Fragen verbunden:
Wie sind „universell“ gültige Aussagen über Formationen und Prozesse in einer Welt möglich, die scheinbar so irreduzibel von Unterschieden geprägt ist? Ist Komplexität nur dadurch gegeben, dass die erkenntnistheoretischen und empirischen Mittel nicht ausreichen, sie zu erfassen? Welche Rolle spielen (disziplinäre) Sprachen dabei? Ist Komplexität ein Kontinuum, das nur reduziert werden kann, indem man das Kontinuum an einer Stelle unterbricht? Ist also Komplexität unvermeidbar und reichen die wissenschaftlichen Mittel bisweilen nicht aus, diese zu erfassen? Was hat das für Konsequenzen? Kann man Forschung nur in Teams gestalten? Braucht es Künstliche Intelligenz für die Lösung der Probleme? Ist der Befund das Ende von Theorien?
Die Digitalisierung vieler Lebensaspekte sowie Multiskalenmodellierung in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sollen als Beispiele für diese vielschichtige Problematik genügen. Tagtäglich erleben wir eine enorme Zunahme der Komplexität der uns umgebenden elektronischen Geräte und digitalen Prozesse. Komplexe Benutzungsschnittstellen können zu einer digitalen Kluft in verschiedenen Bevölkerungsgruppen führen und die künstliche Intelligenz tritt mit dem Anspruch an, komplexe Modelle zu erlernen, jedoch oft mit dem Verlust an Transparenz und Nachvollziehbarkeit. In der theoretischen Informatik ist Komplexitätstheorie ein etabliertes Teilgebiet, um den Ressourcenbedarf von Algorithmen in „gleichschwierige“ Klassen einzuteilen. In der praktischen Informatik ist die Datenkomplexität ein wichtiger Aspekt von Big Data und ein Ziel des Software Engineering ist die Beherrschung der Komplexität großer Softwaresysteme. Diese informatischen Komplexitäten stellen oft unüberwindbare Grenzen für die Lösung natur- und ingenieurwissenschaftlicher Fragestellungen dar. Die Komplexität der zugrundeliegenden Modelle erlaubt keine effiziente Simulation und die Komplexität vieler Sensordaten übersteigt die vorhandenen Analysefähigkeiten. In der Beschreibung komplexer Eigenschaften von materialwissenschaftlichen oder physikalischen Problemen, bei denen eine Komplexitätsreduktion im Allgemeinen nicht möglich ist, kommt es zu universellem Verhalten im Grenzfall großer Zeiten oder Abmessungen, die beispielgebend für andere Wissenschaftsbereiche sein können.
Das Beispiel des digitalen Feldes zeigt, dass Komplexitätsreduzierungen in der Wissenschaft nötig, ihre Ausprägungen aber auch umstritten sind und durchaus Gefahren mit sich bringen können. In vielen anderen wissenschaftlichen Bereichen gestalten sich die Probleme ähnlich. Durch das vorgeschlagene Rahmenthema ergeben sich vielfältige Fragestellungen zum Verständnis, zur Klassifikation und zur Beherrschung von Komplexität. Mögliche Forschungsfelder innerhalb der Ausschreibung könnten sein:
- Digitalisierung und KI
- Verhältnis von Geschichte und Naturwissenschaften
- Umweltproblematik, Klimawandel, Nachhaltigkeit, Naturerbe
- Erinnern und Vergessen
- Konfliktforschung
- Überlieferung historischen Wissens
- Edition und Übersetzung von Texten
- Etc.
Bewerberinnen und Bewerber sind eingeladen, Anträge auch zu anderen Forschungsprojekten einzureichen, die sich in das Thema „Prinzipien, Methoden und Herausforderungen wissenschaftlicher Komplexitätsreduzierungen“ fügen.
Dabei muss immer die Frage berücksichtigt werden, wie weit eine Komplexitätsreduzierung gehen kann, um nicht in Populismen oder Fundamentalismen zu verfallen.