Wie entscheiden Kollektive?
Ursprünglich steht der Begriff Kollektiv für ein soziales Gebilde von Lebewesen. Der Begriff wird jedoch auch in naturwissenschaftlichen Bereichen genutzt, um Eigenschaften nicht auf Lebewesen beschränkter Materie zu beschreiben, z. B. von lebenden Zellen oder Quantenmaterialien. Ein häufig auftretender Begriff ist der der Schwarmintelligenz, der in unterschiedlichsten Disziplinen genutzt wird. Eine Fachgrenzen überschreitende Frage ist hierbei die Entstehung von Entscheidungsprozessen in Kollektiven. Ein Thema, welches sich bisher jeweils abgrenzend in den Naturwissenschaften, Medizin, Sozial- und Geisteswissenschaften wiederfindet und die Entwicklung aktueller Forschungsansätze initiiert. Eine genauere Analyse lässt jedoch die Hypothese zu, dass sich über alle Bereiche hinweg allgemein gültige Verhaltensregeln aufzeigen lassen, die zu Entscheidungen des jeweiligen Kollektivs führen. Die Umgebung einer Akademie ist für die Erarbeitung dieser Regeln ideal.
Ein paar Beispiele und Fragen
Wie können sich aus kollektiven Entscheidungen einer demokratischen Staatsform, autoritäre oder totalitäre Formen entwickeln? Ist dies eine Entscheidung des Kollektivs, von Gruppen des Kollektivs oder eines Individuums? Wie werden diese Entscheidungsprozesse eingeleitet – eventuell weit bevor unsere heutigen Wahrnehmungsmöglichkeiten diesen Paradigmenwechsel eines Kollektivs erfassen?
Wie gelingt es, dass kollektive Gesellschaftsformen narzisstische Bestrebungen stützen?
Entscheidungen zu Führungskräften, die aus mobilen Menschen- und Tiergruppen durch kollektive Entscheidungsfindung herausgebildet werden, erfordern die aktive Teilnahme eines Einzelnen und dessen Wechselwirkung mit der Umgebung. In ähnlicher Weise findet man dieses Verhalten auch auf der Ebene einzelner Zellen, welche die kleinste lebende Einheit ausmacht. Die kollektive Zellmigration treibt viele kritische biologische Prozesse an, einschließlich Wundheilung, Organogenese und Krebsentwicklung. In der kollektiven Migration der Zellen bewegen sich diese als koordinierte und zusammenhängende Gruppe, wobei jede einzelne Zelle starke Wechselwirkungen mit benachbarten Zellen und der Umgebung eingeht. Kollektive Zellmigration erfordert den Entscheidungsprozess zu funktionsbildenden Prozessen, zum Beispiel die Identifizierung von Führungszellen.
Im Bereich der Kunst- und Literaturwissenschaften könnte man die Praxis und Entscheidungswege von Autorenkollektiven, Malerschulen oder Dichtergruppen analysieren, historisch vergleichen und danach fragen, wie produktions- und rezeptionsästhetisch Stil-, Geschmacks- und Epochenwechsel im Austausch von Individuum und Kollektiv initiiert und in unterschiedliche Konstellationen eingebunden werden. Der Entscheidungsbegriff wäre philosophisch und begriffshistorisch zu problematisieren und im interdisziplinären Austausch mit den Naturwissenschaften zu klären, welche Rolle der freie Willen bei Entscheidungsprozessen spielt und welche besonderen Merkmale menschlichen Entscheidungen zukommen.
Auch im Bereich der „unbelebten“ kondensierten Materie sind kollektive Phänomene das bestimmende Merkmal zur Ausbildung wahrnehmbarer Funktionen. Ist emergentes Verhalten in Vielteilchen-Systemen auf skalen-unabhängige Prozesse mit identischen physikalischen oder mathematischen Prinzipien zurückführen? Oder umgekehrt gefragt: Ist die analytischen Zergliederung von Phänomenen und anschließende Synthese der Teilerkenntnisse zum Verständnis der Ganzheit hinreichend für das Verständnis von Wechselwirkungen, die zu emergentem Verhalten in Kollektiven führen? Beispiele hierzu findet man bei der Entwicklung geordneter Quantenzustände, z. B. Quanten-Hall-Systeme, Supraleitung, Bose-Einstein-Kondensation von Gasen und Exzitonen in Halbleitern und quantenkritischen Phänomenen im Allgemeinen.
Zusammenfassend zeigt sich, dass Wechselwirkungs- und Entscheidungsmuster von Zellen, Lebewesen und Teilen unbelebter Materie Gemeinsamkeiten aufweisen, die durch scheinbar vollkommen unterschiedliche Mechanismen identifiziert werden. Was sind deren Gemeinsamkeiten? Neben der Erforschung spannender Fragen in den jeweiligen Disziplinen werden im WIN-Kolleg auch transdisziplinäre Erkenntnisse zu diesem Thema erarbeitet, wie es in keiner anderen Forschungsförderung geboten wird und insbesondere die Akademie als wissenschaftliche Heimat benötigt.