Das Altfranzösische umfasst den Zeitraum von 842 bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts, der als Epoche für die europäische Gegenwart konstitutiv ist. Zentrale Bedeutung kommt in dieser Hinsicht vor allem den kulturellen und gesellschaftlichen Transformationen im Kontext der Renaissance des 12. und 13. Jahrhunderts zu: Basierend auf antiker Wissenschaft und befruchtet von islamischen und jüdischen Gelehrten bildete sich zunächst in Frankreich aufklärerischer Geist zu dogmenkritischer Wissenschaft heraus, die sich in ganz Europa ausbreitete und in die Geburt der Universitäten mündete. Hier nahm die Entwicklung von einer Klerikerkultur zu einer Laienkultur – gewöhnlich für das Zeitalter des Humanismus reklamiert – ihren Anfang. Auch die Entwicklungen in anderen Bereichen der europäischen Kultur im 12. und 13. Jahrhundert lassen sich unter den Begriff der translatio studii aus der griechisch-römischen Antike ins französische Mittelalter fassen: Die rasante Entwicklung der Wissenschaften hat ihre Parallelen etwa in der Blüte der vernakularsprachlichen Literatur und der Entstehung der chansons de geste, in der Glanzzeit der romanischen Kunst und der Geburt der Gotik, sowie in der Wiederaufnahme des römischen Rechts als Grundlage des europäischen Rechtssystems.
Sprachliches Medium der beschriebenen gesellschaftlich-kulturellen Transformationen war neben dem Mittellatein vor allem das Altfranzösische als wirkungsmächtigste Vernakularsprache des europäischen Mittelalters. Zahl und geographische Herkunft der erhaltenen Quellen vermögen einen Eindruck von der historischen Bedeutung des Altfranzösischen zu vermitteln: Seine Überlieferung umfasst viele Tausend Texte, die nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus England, Zypern und dem Heiligen Land stammen, wo das Französische über Jahrhunderte Herrschaftssprache war. Das Prestige des Altfranzösischen manifestiert sich darüber hinaus auch in einer ausgedehnten frankoitalienischen Literatur – beispielsweise berichtet der Venezianer Marco Polo auf Altfranzösisch von seinen Reisen – und in seinem Einfluss auf alloglotte Literaturtraditionen: So adaptierten die wichtigsten Vertreter der mittelhochdeutschen Klassik (Wolfram von Eschenbach, Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg) in ihren Romanen französische Vorbilder. Die Kommentare Raschis und seiner Schüler aus dem 11. bis 13. Jahrhundert, die viele Tausend altfranzösische Glossen beinhalten, werden bis heute in allen großen jüdischen Bibelausgaben überliefert.
Die historische Lexikographie leistet einen zentralen Beitrag zur Erforschung der kulturellen Grundlagen Europas und somit zu einem besseren Verstehen unserer gegenwärtigen Lebenswelt, indem sie den Wortschatz als Schlüssel zum kulturellen Gedächtnis Europas begreift und auf diese Weise zur ganzheitlichen Integration historisch-kulturellen Wissens beiträgt. Das Altfranzösische erscheint aufgrund seiner zentralen Bedeutung für das europäische Mittelalter als Dreh- und Angelpunkt eines solchen Forschungsansatzes besonders geeignet. Gleichzeitig erfordert der interdisziplinäre Anspruch einer als Teil einer umfassenden Kulturwissenschaft verstandenen historischen Lexikographie die Integration philologischer Nachbarfächer – Mittellatein, Germanistik, Semitistik, Judaistik etc. – sowie die Einbeziehung der Geschichtswissenschaft, insbesondere der geistesgeschichtlichen und realienkundlichen historischen Disziplinen, wie etwa Wissenschaftsgeschichte, Ideengeschichte und Mentalitätsgeschichte. Durch die Erhellung der Dynamik von Sprache und außersprachlicher Kultur im Kontext des europäischen Mittelalters kann die historische Lexikographie des Altfranzösischen dem Erkenntnisziel eines historisch fundierten Verstehens und Bewertens unserer gegenwärtigen Lebenswelt gerecht werden.