Entstehungsgeschichte des DAG und methodologische Eckdaten
Die Erarbeitung des DAGs begann unter der Leitung von Kurt Baldinger (1955-2006), der neben der Herausgabe des DAGs die parallele Erarbeitung eines Altokzitanischen Wörterbuchs vorsah (DAO/DAO Suppl). Im Jahr 2006 wurde das Projekt von Jean-Pierre Chambon neu konzipiert: Neu wurde im DAG_1300 (2006-2020) auf die parallele Redaktion des DAO verzichtet, da das Okzitanische mit dem Lexique roman ou dictionnaire de la langue des troubadours von Raynouard, dem Provenzalischen Supplement-Wörterbuch von Levy, dem Französischen etymologischen Wörterbuch von Wartburg und dem Dictionnaire de l’occitan médiéval (DOM) schon ungleich grössere Beachtung gefunden hatte. Zudem wurde die zeitliche Beschränkung auf die Anfänge der gaskognischen Scripta bis 1300 verkürzt und auf die Angabe der latinisierten und regionalfranzösischen Formen verzichtet. Seit 2014 läuft mit dem DAGél (Konzept und Leitung Martin Glessgen, unter Mitwirkung von Sabine Tittel) ein paralleles Projekt, dessen Ziel die Digitalisierung, Redaktion und elektronische Veröffentlichung des gesammelten lexikographischen Materials ist. Im Konzept des DAGél wurde der zeitliche Rahmen wieder bis 1500 erweitert und die Berücksichtigung der latinisierten altgaskognischen Formen sowie der delexikalischen Ortsnamen neuerlich eingeführt (cf. Glessgen/Tittel 2018 PDF).
Die typologische Klassifikation des Gaskognischen
Bislang gibt es kein Wörterbuch, das den Wortschatz der altgaskognischen Sprache separat oder auch nur in einer irgendwie befriedigenden Form darstellt. Das einzige umfassende lexikographische Werk ist ein Wörterbuch zum Teilgebiet des Bearnesischen und der Mundart von Bayonne aus dem 19. Jh. (cf. Lespy/Raymond 1887), das in einer 1997 unwesentlich überarbeiteten, aber nicht erweiterten Neuauflage vorliegt.
Es ist beim aktuellen Forschungsstand schwierig zu entscheiden, ob Gaskognisch als eigene Sprache oder als Varietät des Okzitanischen zu werten ist. Auch wenn diese Frage für die Erforschung des Gaskognischen ohne entscheidende Bedeutung ist – die Varietät verdient auf jeden Fall die volle Aufmerksamkeit der Sprachgeschichte und -geographie (cf. Rohlfs 1970, 1) –, hat sie viele Forscher beschäftigt. Der Ursprung dieser Diskussion reicht sogar bis ins Mittelalter zurück, wo das Gaskognische bereits als eigene Sprache verstanden wurde, zumindest in Abgrenzung zur Hochsprache der Troubadours: In den Leys d’Amors, einem grammatikalischen und poetologischen Kompendium von ca. 1350 zählte es für den okzitanischen Autor als lengatge estranh zu den Fremdsprachen, aufgeführt neben Französisch, Englisch, Spanisch und "Lombardisch". Nur wenige Linguisten, wie Achille Luchaire (1879, 193), Kurt Baldinger (1962, 331f) oder Georges Straka (1987, 408) klassifizierten in neuerer Zeit das Gaskognische als eigene Sprache, während viele andere, wie z.B. Mistral, Lespy, oder Rohlfs (1966, 104 und 179), seine Eigenheiten zwar hervorheben, das Gaskognische jedoch eher als Varietät dem Okzitanischen angliedern (cf. Chambon/Greub 2002, 490; Field 2009, 751f). Eine eindeutige Zuordnung des Gaskognischen wird aber seiner komplexen Situation nicht in Gänze gerecht: Während das (Proto)Gaskognische um spätestens 600 schon seine charakteristischen lautlichen Spezifika herausgebildet hat, war das Okzitanische zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht erkennbar. Eine frühe 'Ausgliederung' der gaskognischen Varietät, katalysiert zweifellos durch die Randlage und den Sprachkontakt, ist daher unzweifelhaft. In der Folge hat sich das Gaskognische zugleich in engem Austausch mit den benachbarten okzitanischen Varietäten weiterentwickelt (cf. Chambon/Greub 2002, 492), was eine wechselseitige Annäherung bedingte.
Die Forschungslücke zur Entwicklungsgeschichte und den historischen Eigenarten des Gaskognischen in der südlichen Galloromania war für Kurt Baldinger (1919-2007) der entscheidende Ansatzpunkt für vorliegendes Forschungsprojekt. Die Schaffung des altgaskognischen Wörterbuchs sollte eine völlig neue Grundlage zur Kenntnis dieses bis dahin vernachlässigten Sprachgebiets der Romania schaffen.
Quellen und zeitlicher Rahmen
Der DAG ist ein Wörterbuch der altgaskognischen Urkundensprache. Er umfasst den Wortschatz der mittelalterlichen Sprachstufe des Gaskognischen und seinen Varietäten (bes. des Bordelais, der Landais, des Béarnais, des Bigourdin, des Comminges und des Val d'Aran). Die Quellentexte sind juristischer und administrativer Art: Gesetze, notarielle Schreiben, Verordnungen, Verwaltungsdokumente, gerichtliche Akten, Steuerlisten, Testamente, Akten zum Lehnswesen u.a.
Ausgewertet wird die gaskognische Skripta vom Beginn ihrer schriftlichen Überlieferung im 11. Jh. bis 1300 (Konzept Chambon seit 2006) bzw. 1500 (Leitung Baldinger 1955-2006 / DAGél, Glessgen seit 2014). Die von Chambon festgelegte zeitliche Beschränkung des DAG_1300 auf das Jahr 1300 und der Verzicht auf die latinisierten Formen, verringerte das Redaktionsmaterial auf etwa ein Zehntel. Die betrachtete Zeitspanne verkürzte sich auf 150 Jahre, beginnend mit den ersten rein gaskognischen Texten in der Mitte des 12. Jahrhunderts, wobei eine bestimmte Überlieferungsdichte wohlgemerkt erst um 1230/40 einsetzt.
Frühere gaskognische Formen stammen aus lateinischen Kontexten. Die von Glessgen wiederum bis 1500 ausgeweitete zeitliche Limite des DAGél erlaubt die Betrachtung lexikologischen Materials einer um zwei Jahrhunderte breiteren Zeitspanne. Die Beschränkung auf das Jahr 1500 als Terminus ad quem erklärt sich durch den wachsenden Einfluss des Französischen auf das Gaskognische, der schon seit dem 12. Jh. in Ansätzen greifbar ist, sich jedoch als Folge des Albigenserkreuzzugs Anfang des 13. Jh. und vor allem des Hundertjährigen Kriegs verstärkte. Mit der Eingliederung der Gaskogne ins Kronland 1451/53 beginnt das Französische die gaskognische Skripta abzulösen, ein Prozess, der dann 1539 durch die Ordonnance de Villers-Cotterêts endgültig wird. Diese setzt das Französische als einzige Sprache von administrativen und juristischen Texten fest und ersetzt somit die in diesen Textsorten gebräuchliche gaskognische Scripta (cf.Baldinger 1962, 342).
Die Auswertung der Urkundensprache gewährt vielfältige Einblicke in die lebendige Sprachentwicklung der Volkssprache, die durch die formelhafte juristische Ausdrucksweise unmittelbar greifbar wird. Die Gegenstände der Prozesse und Verordnungen waren Menschen und ihre täglichen Probleme, und so findet man die allgemeine Umgangssprache mindestens ebensosehr in Urkunden wie in der Sprache der Belletristik. Ein Wörterbuch der Urkundensprache ist im Übrigen nicht nur für Linguisten von Bedeutung, sondern auch unumgänglich für Historiker.