Im Zeitalter der Polykrise: Wie komplexe Krisen entstehen und wie wir ihnen begegnen können
In den letzten Jahren hat die Welt verschiedenartige Krisensituationen erlebt, die als komplexes System aus parallelen, sich überlagernden und miteinander verbundenen Krisen verstanden werden können. Diese Polykrisen können potentiell das Versagen gesellschaftlicher und politischer Systeme verursachen, sind aber bislang konzeptionell sowie in ihrer Wirkung wissenschaftlich unterbeleuchtet. Dieses interdisziplinär angelegte Projekt zielt darauf ab, das Spannungsfeld zwischen komplexen Krisen und der notwendigen gesellschaftspolitischen Reduktion dieser Komplexität zu untersuchen. Denn gerade die Komplexitätsreduktion birgt das Risiko Krisenkommunikation scheitern zu lassen oder gesellschaftliche Diskurse zu polarisieren.
Bislang gibt es keine theoriegeleitete konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Begriff Polykrise in den Sozialwissenschaften. Die bislang erfolgte Anwendung auf empirische Beobachtungen ist nicht ausreichend theoretisiert und somit bleibt es analytisch nebulös, wie eine Polykrise erkannt werden kann und welche Einzelkrisen in welcher Form ein komplexes System aus systemischen Risiken bilden. Wir sehen daher in der sozialwissenschaftlichen Konzeptualisierung von Polykrisen eine Möglichkeit der Komplexitätsreduktion. Darüber hinaus gibt es bislang kaum empirische Analysen bezüglich des Verlaufs, dem Management sowie den Konsequenzen von Polykrisen für Gesellschaften und Staaten. Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass die Wissenschaft noch keinen Konsens über eine adäquate Konzeptionalisierung von Polykrisen erreicht hat. Zum anderen zeigt sich aber bei den wenigen empirischen Untersuchungen, dass die Analyse von Polykrisen und deren Komplexitätsreduktion methodisch herausfordernd ist.
Das Forschungsprojekt möchte die Entstehung, Entwicklung und den Verlauf von Polykrisen konzeptualisieren, sowie ihre Wirkung auf gesellschaftliche und politische Diskurse und damit das Krisenmanagement untersuchen, um Erkenntnisse zu liefern, wie diesen neuartigen Krisen begegnet werden kann. Zu diesem Zweck möchten wir in diesem Forschungsprojekt zwei Frage beantworten:
- Wie können die Dynamiken (Entstehung, Entwicklung, Verlauf) von Polykrisen effektiver beschrieben und konzeptualisiert werden?
- Wie wirken globale Polykrisen auf gesellschaftliche und politische Diskurse hinsichtlich des Krisenmanagements und deren Komplexitätsreduktion?
Um sich dem Themenkomplex Polykrisen und deren Wirkung anzunähern werden Theorieansätze und Forschungsmethoden aus den Internationalen Beziehungen und den Amerikastudien kombiniert, dazu zählen z.B. Komplexitätstheorie, die Theorie der ontologischen Sicherheit sowie Methoden aus der korpus-gestützten Diskursanalyse.
In einem ersten Schritt im Arbeitsprogramm dieses Forschungsprojekts werden auf der Grundlage der Literatur zu Internationalen Beziehungen, Polyzentrismus, Soziologie und Komplexitätsforschung theoretische Annahmen entwickelt, die sich mit der Frage befassen, wie polyzentrische Krisen konzeptualisiert werden können und welche möglichen Auswirkungen verschiedene Polykrisen auf Nationalstaaten und deren Gesellschaften haben können. Wenngleich die IB-Forschung sich umfassend mit dem Krisenbegriff beschäftigt hat, so fehlt es der Disziplin bislang an einem systematischen Verständnis dafür, was „Polykrise“ bedeutet und umschließt. Vor diesem Hintergrund integriert dieses Forschungsprojekt in einem ersten Schritt Ansätze zur Konzeptbildung, um eine gründliche Konzeptualisierung von Polykrise zu entwickeln. Dies soll dazu beitragen, die weit verbreitete Unsicherheit und Komplexität zu verstehen, die zu charakteristischen Merkmalen der heutigen internationalen Politik geworden sind.
In einem zweiten Schritt nutzen wir sodann das entwickelte Konzept der Polykrise und untersuchen auf der Grundlage eines Mixed-Methods-Ansatzes konkret inwiefern sich gesellschaftliche sowie politische Diskursformationen im Kontext globaler Polykrisen formieren. Der erste Fall behandelt die Polykrise globaler Klimawandel und Naturkatastrophen sowie soziale, gesellschaftliche und politische Faktoren, die deren Auswirkungen negativ befördern. Der zweite Fall untersucht die Polykrise Ukraine-Krieg und damit zusammenhängende Wirtschafts-, Nahrungsversorgungs- und Energiekrise. Beide Fälle stellen aufgrund ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit Idealtypen einer Polykrise da, variieren aber potentiell hinsichtlich ihrer Diffusion und Nicht-Linearität.
Polykrisen werden aufgrund ihrer diffusen Komplexität innerhalb von Gesellschaften oft unterschiedlich wahrgenommen, sodass Dissens darüber besteht, ob eine Krisensituation überhaupt besteht, wer oder was die Krise verursacht hat und wie sie überwunden werden kann. Aufgrund ihrer Komplexität und der scheinbar nicht enden wollenden Unsicherheit haben Polykrisen das Potential, Krisendiskurse zu polarisieren, was wiederum das Krisenmanagement beeinflussen kann. Durch den methodischen Ansatz der quantitativen und qualitativen Diskursanalyse soll sich das Projekt an das Konzept der Polykrise annähern und dabei Einblicke in staatliches Handeln in diesen Krisensituationen und die Wahrnehmung dessen geben. Die USA sind hier als globale Supermacht weiterhin entscheidend. Das Projekt will aber auch Vergleiche zu anderen politischen Systemen, wie etwa Deutschland ziehen. Hier interessiert uns, welche Rolle Diskursmuster und -Akteure bei der Wahrnehmung und Adressierung von komplexen Krisen spielen und ob diese zur effektiven Bewältigung von Polykrisen (Komplexitätsreduktion) beitragen. Aufgrund ihrer besonderen Komplexität vermitteln Polykrisen ein hohes Maß an Unsicherheit hinsichtlich der zu erwartenden materiellen und immateriellen Kosten für Gesellschaft und Staat. Folglich sind Regierungen, Gesellschaften und Individuen bestrebt, die enorme Komplexität heutiger Polykrisen zu reduzieren, um gesellschaftliche Vermittlung und Akzeptanz für das Krisenmanagement überhaupt zu legitimieren.
Das WIN-Kolleg bietet für unser Forschungsprojekt attraktive Bedingungen zur interdisziplinären Zusammenarbeit und Vernetzung. Bei der Betrachtung von Wahrnehmung und Kommunikation in Krisensituationen kann das Projekt von der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen profitieren, etwa bei der Frage, wie sich Krisenkommunikation nicht nur auf nationaler und gesellschaftlicher Ebene entfaltet, sondern wie diese auch auf individueller, mentaler Ebene von Menschen verarbeitet wird. So können gesellschaftliche Auswirkungen von Polykrisen ganzheitlich gedacht und auch die individuelle Krisenvulnerabilität und –Resilienz betrachten werden.